Eigentlich recht unüberlegt und spontan kaufte ich Anfang des Jahres eine Karte für Icon For Hire, die im Mai in Berlin spielen würden. Ich hatte sie vor ein paar Jahren mal gesehen, war da sehr begeistert und ohne, dass mir klar ist wieso, waren sie später wieder in den Hintergrund gerückt. Das aktuelle Album jedoch begeisterte mich auf Anhieb, der Sound war exakt das, was ich zurzeit höre, stark elektronisch beeinflusste Rockmusik. Außerdem waren die Tickets günstig.
Bis zum Konzert beschäftigte ich mich dann auch gar nicht weiter mit der Band, entsprechend hatte ich kaum Erwartungen. Ich kam minimal zu spät zur Vorband, Riot Child spielten gerade ihren ersten Song. Selten habe ich so eine gute Vorband erlebt! Die beiden Schwedinnen waren offensichtlich ehrlich begeistert, endlich mal vor ein paar hundert Leuten spielen zu können, und knallten uns einen wütenden, energetischen Song nach dem anderen um die Ohren. Eine wirklich gute Band, die wirklich gut zu Icon For Hire passte.
Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, wie sehr Icon For Hire selbst dann reinhauen würden! Das Konzert eröffnete mit Pulse, zack brannte die Hütte. Unfassbar treibender Beat, perfekte Steigerungen und Breakdowns um gleich am Anfang einzuheizen und diese Frontfrau! Ich habe schon einige gute Bands gesehen, aber diese Energie, mit der sie ihre Songs auf die Bühne bringt, ist unfassbar. Dazu kam, und das steigerte das gesamte Konzert nochmal deutlich, dass der Raum offenbar voller Fans war, alle von der ersten Sekunde total gepackt, textsicher, laut, emotional.
Die ersten vier Songs waren allesamt laut und wütend. Ich hatte mich mit den Texten nicht sonderlich beschäftigt und im Nachhinein bin ich vermutlich auch nicht unbedingt Teil der Hauptzielgruppe, aber mit den Emotionen dahinter kann ich mich allemal identifizieren. Die Menschen um mich herum ebenfalls. Rebellion! Wir kochten und waren gleichzeitig unheimlich aufgewühlt. Wir stellten die Frage, was aus uns werden soll, wenn alles, worauf wir unsere Identität aufgebaut hatten, zerbricht. Wir legten uns mit Leuten an, die mit unserem Lebensstil nicht einverstanden sind. Wir bekamen fürchterlich böse E-Gitarren- und Synthesizer-Riffs in die Ohren geknallt, headbangten so hart, dass unsere Haare zur Waffe wurden und schrien uns die Stimmbänder wund. Too Loud sei an dieser Stelle empfohlen. Gleichzeitig wütend und aufbauend. Großartig.
Mit dem fünften Song, Under The Knife, ging es tiefer in die emotionale Ebene. In diesem Block gab es auch eine kurze Lesung; Sängerin Ariel ist auch Autorin eines Buches, in dem sie ihre persönliche Geschichte mit Depressionen, Frustration und Niederlagen aufgeschrieben hat und wie von dort, trotz aller Rückschläge, nicht nur zur erfolgreichen Künstlerin, sondern zur geistig gesunden erfolgreichen Künstlerin wurde. Ein wichtiger Unterschied, und ein sehr ergreifender Moment.
Icon For Hire-Konzerte sind wirklich geprägt von einer fantastischen Dramaturgie. Wichtiger Punkt: Die Leute niemals am Boden lassen. Also erneut Aufbruchstimmung mit Iodine und anschließend Hope of Morning. Viel Hoffnung, aber auch viel Leid, und wenn du einmal am Boden warst, ist der Weg zurück nicht einfach. In diesem aufgewühlten Zustand erinnerten Band und Zuschauer sich gemeinsam: Depressionen haben auch einen der erfolgreichsten Musiker der Welt das Leben gekostet, Chester Bennington, Sänger von Linkin Park. Nie war ich schneller bereit und konsequenter dabei, meine Handy-Taschenlampe leuchten zu lassen und lautstark Numb mitzusingen, bis mir die Tränen kamen und die Stimmbänder rebellierten. So ein großartiger Song mit einem so finsteren Hintergrund... nicht ohne Grund fast eine Milliarde Mal abgespielt allein auf Youtube.
Ich bin wirklich nicht leicht zu Tränen gerührt, aber in dem Moment war es aus mit mir. Gut, dass wir erneut nicht allein gelassen wurden - es folgte You Can't Kill Us, die ultimative Kampfansage und ein fantastisches Mantra für ein Konzert. Wäre jemand jetzt erst dazu gekommen, wir hätten vermutlich wie ein seltsamer Kult gewirkt. Ich habe noch nie erlebt, dass ein ganzer Saal ausnahmslos so mitgerissen war, so fokussiert, so frei von jeglicher Ablenkung. Gelegenheit, die Faust zu ballen? Alle ballen die Faust. Gelegenheit, Lichter zu schwenken? Alle schwenken Lichter, keiner filmt.
Den Rest des Konzertes rissen wir mit der neu gewonnenen Energie den Saal ab: Ein weiteres Cover, Jump Around, dann Make A Move und in den Zugaben Get Well und Demons. Trotz aller Emotionalität war mein Gehirn unfassbar frei, war ich entspannt, trotzdem energiegeladen, und unheimlich glücklich. Ich hatte gerade nicht nur das vielleicht bisher beste Konzert meines Lebens erlebt, sondern auch Hoffnung und Energie geschöpft für gefühlt alles.
Glasklare Sache, dass ich mir das direkt nochmal geben musste. Vier Tage später spielten Icon For Hire in Prag, was quasi genauso weit weg ist wie Berlin. Ich vereinbarte über Facebook auf Englisch mit einer Prager Schülerin, dass ich ihr am Tag des Konzertes ihre Karte abkaufen würde, da sie nicht gehen konnte. Ich buchte ein Hostel und Zugverbindungen und traf sie am frühen Nachmittag auf einem großen Platz in der Innenstadt. Nach etwas Stadterkundung ging es abends in den Keller einer Bar zum Konzert.
Nun kannte ich die Dramaturgie natürlich und tatsächlich war das Konzert nahezu exakt identisch mit dem in Berlin, jedoch schien auch das zu passen: Die Zuschauer in Prag waren wesentlich mehr körperlich aktiv. Auch sie waren extrem fit mit den Texten (ich inzwischen auch) und sangen sich die Kehle aus dem Leib, jedoch war hier von Anfang an auch viel mehr Bewegung in der Menge. Hatte mir das Mitwippen und Headbangen in Berlin ermöglicht, mich sehr auf die Musik einzulassen, war in Prag Moshpit angesagt. Bei jedem lauten Song. Sofort. Die ganze Zeit. Es war außerdem irrsinnig laut, der Sound auch gar nicht mal so gut, so dass es ebenfalls ein sehr intensives Konzert wurde, jedoch ganz anders. Ich hätte noch nie so gerne eine kalte Bierdusche bekommen wie in dieser Nacht. Am Ende des Konzertes in Prag war ich ähnlich glücklich, jedoch auch körperlich völlig fertig. Fantastisch!
Ein weiterer Grund, warum ich nach Prag fahren wollte, war, dass ich in Berlin versäumt hatte, Merchandise zu erwerben. Die Band verkauft ihr aktuelles Album nur selbst, außerdem haben sie geile T-Shirts. Ich hatte noch relativ viel tschechisches Bargeld übrig, außerdem ließ der Merch-Verkäufer, der mich am Akzent erkannte und fortan Deutsch mit mir sprach, mit sich handeln, so erwarb ich für 1000 Kronen (ca. 45€) die CD, ein T-Shirt und auch das Buch. Yeah! Glücklich und zufrieden ging es zurück zum Hostel. Die abartig frühe Rückfahrt schon wenige Stunden später war es auf jeden Fall wert. Und wenn ihr mit der Musik auch nur halbwegs etwas anfangen könnt - gebt euch eines dieser Konzerte. Ihr werdet es nicht bereuen, und vielleicht werdet ihr auch Teil einer neuen Community dadurch.
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