Beim Kirchentag in Dresden vor zwei Jahren ist mir folgendes Phänomen aufgefallen: Warum setzen wir uns beim Kirchentag (im Zug) lieber zu anderen, als alleine zu fahren, und ansonsten andersrum? Weil wir beim Kirchentag alle aus verschiedenen, aber verwandten Situationen kommen, aber normalerweise keinen Zusammenhang haben?
Mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren kann in unserer Gesellschaft zuweilen bizarre Ausmaße annehmen. Man sitzt sich gegenüber, starrt aber aneinander vorbei. Den Blick des anderen erträgt man nicht, jemanden anzustarren gilt als unhöflich. Wieso ist es so unüblich, im Alltag fremde Menschen anzusprechen?
Die häufigste Situation ist der Berufsverkehr. Wir fahren zur Arbeit, sind müde, unentspannt, unmotiviert, hatten im schlimmsten Fall noch kein Heißgetränk unserer Wahl. Oder wir kommen von der Arbeit, sind müde, unentspannt, ausgelaugt, haben im schlimmsten Fall noch weitere Termine an Orten mit kaputten Kaffeemaschinen. In einer solchen Situation mit fremden Menschen kommunizieren, die womöglich irgendein langweiliges Zeug zu erzählen haben? Die meisten Leute schaffen es nach Feierabend ja nichtmal mehr weiter als zwei Schritte in den Zug hinein ("Verzögerungen im Betriebsablauf").
Oder wir kommen von einer Reise zurück, von einem Konzert, von einer Party. Wir sind müde, aufgekratzt, im schlimmsten Fall nicht betrunken genug. Dafür geht uns der gröhlende Penner drei Reihen weiter vorne tierisch auf die Nerven. Der MP3-Player leer, die Freunde mussten in eine andere Richtung. Wir sind weit weg von unserem Wunschzustand.
Wunschzustände und der Alltag. Wir haben so genaue Vorstellungen davon, wie unser Leben aussehen soll. Sie haben im Wesentlichen mit uns zu tun, kaum mit unseren Mitmenschen. Und obendrein sind wir oft weit weg von dieser Vorstellung: Unser Alltag nervt uns, der Job ist scheiße, der Kaffee aus der Maschine im Büro schlecht.
Eigentlich wäre es doch gerade deshalb gut, mal ein paar Kleinigkeiten anders zu machen. Habt ihr mal im Zug jemanden grundlos angelächelt? Es ist unglaublich, wie sehr sich Leute über so eine Kleinigkeit freuen. Seid ihr mal mit einem Bus gefahren, bei dem der Busfahrer jeden Fahrgast freundlich begrüßt hat? Unfassbar, wie viel besser die Stimmung in diesem Bus ist. Habt ihr mal beobachtet, wie viele Leute plötzlich lachen, wenn der Kölner S-Bahn-Fahrer mal wieder eine auflockernde Durchsage macht?
Sobald unser Alltag gestört wird, und am einfachsten geht das durch den gemeinsamen Feind Deutsche Bahn ("Der ICE 1337 heute ca. 85 bis 90 Minuten später"), fangen die Menschen an zu kommunizieren. Erst heute wurde mein Regionalexpress erst auf ein anderes Gleis verlegt, dann wieder zurück, und dann kam er sowieso 20-30 Minuten zu spät. Und schon kann man einfach in Gespräche einsteigen, die andere Leute gerade führen.
Das funktioniert auch in positiveren Situationen. Bei den Typen mit den Van Canto-T-Shirts war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch zu Bochum Total fahren. Für wen die anderen Fotografen so unterwegs sind, wollte ich die ganze Zeit schon wissen. Nachdem man jemandem den Koffer die Treppe hochgetragen hat, kann man auch gleich noch fragen, wo es denn hingeht.
Und beim Kirchentag sind wir aus dem Alltag rausgerissen, entspannt, quasi im Urlaub, und meistens taugt auch das Frühstück was. Die Menschen um uns herum denken zwar vielleicht ganz anders, aber meistens kann man sich trotzdem mit ihnen unterhalten, weil sie aufgeschlossen und interessiert sind. Außerdem haben wir selbst gerade viele neue Eindrücke gesammelt.
Ich sage nicht, dass wir bei jeder 5-Minuten-Fahrt zur Uni unsere Sitznachbarn zutexten sollten. Die Anonymität der Großstädte ist ja manchmal auch ganz angenehm. Aber bei der 5-Stunden-Fahrt nach Berlin ergeben sich sicher Gelegenheiten für nette Gespräche. Oder ist euer Leben so langweilig, dass ihr weder selbst etwas zu erzählen habt, noch euch für die Welt um euch herum interessiert?