Artikel von

Christian


No Roots

Der Grund dafür, dass ich so selten Musikvideos poste, liegt darin, dass ich die meisten Musikvideos doof finde. Deswegen schaue ich inzwischen auch kaum noch welche an. Ein Song, über den ich mich in letzter Zeit jedes Mal freue, ist No Roots von Alice Merton (und ich wette, jeder, der das hier liest, kennt den auch, obwohl euch der Name nichts sagt) und da die Frau noch gar kein Album herausgebracht hat, hörte ich den also auf Youtube.

Und hey.

Das Video dazu ist auch cool. Keine Video-Einleitung, die so lang ist wie der Song, keine seltsamen Szenen, deren Zusammenhang man nicht versteht, bloß ein paar schlichte Shots von der Sängerin, authentisch, attraktiv, stilvoll und wirkungsvoll gesetzte Schnitte und Übergänge. So wie der Song sich quasi unmerklich steigert (man achte mal darauf, was da alles passiert, abgesehen von Gesang und dem Lead-Bass-Synthesizer), steigern sich auch die Szenen in dem Video. Kann man machen. Und ich bin sehr gespannt, was da noch kommt - alleine die Tatsache, dass Alice Merton, so alt wie meine jüngere Schwester, schon vor ihrem ersten vollständigen Album nicht nur einen ernstzunehmenden Hit gelandet, sondern auch ein eigenes Label gegründet hat, spricht dafür, dass sie es ernst meint. Finde ich gut.



Facebook-Auszeit und ein ernstes Problem

Im Herbst hatte ich mir für ein paar Wochen eine Facebook-Auszeit genommen. Ich wollte meinen Account schon länger löschen, der Funke hat bloß immer gefehlt. Im Juni kam einer: Auf Facebook war plötzlich eine kostenpflichtige Werbeanzeige geschaltet - angeblich in meinem Namen.

Der Anfang der ganzen Geschichte war ein unscheinbarer Hinweis in meiner Seitenleiste bei den von mir verwalteten Seiten. Einer meiner Beiträge hätte eine Reichweite von soundso erreicht, von meinem Budget wären soundso viel Euro verbraucht. Budget? Ich hatte gar keine Werbung geschaltet, schon gar nicht für diesen Beitrag - es ging um einen älteren Post von TEN SING RheinRuhr. Ein schneller Blick in die Einstellungen und eine halbstündige Odyssee durch schlecht dokumentierte Facebook-Funktionen zeigten mir, dass dieser Beitrag beworben wurde, dass dies von meinem Account aus passiert war und dass eine mir nicht bekannte Kreditkarte eingetragen wurde, von der die Werbekosten abgebucht werden sollten.

Der Witz daran: Zu der Zeit, zu der die Anzeige geschaltet wurde, war ich gar nicht wach. Und die Kreditkarte gehörte auch keinem anderen Teammitglied. Ich wandte mich also an den Facebook-Support. Dieser verwies mich nach einiger Wartezeit auf ein Formular, dass ich bereits gefunden hatte, dass ich aber nicht ausfüllen konnte, weil ich dafür die Kreditkartennummer brauchte - und ich bekam aber nur die Endziffern angezeigt. Also nachgefragt, nein, das sei kein Problem, antwortete ein anderer Facebook-Mitarbeiter, ich solle einfach mit XXXX auffüllen. Na gut.

Ein paar Tage später, ein dritter Mitarbeiter schrieb mir, sie hätten das Formular erhalten, aber ich hätte es unvollständig ausgefüllt. Also erklärte ich die ganze Geschichte nochmal - in der Zwischenzeit hatte ich vorsichtshalber schonmal alle Anzeigen deaktiviert und alle Budgets auf null gesetzt. Nun kam erstmal eine Weile nichts. Irgendwann war mein Konto dann plötzlich gesperrt.

Ich schaffte es irgendwie, mein Passwort zu ändern, und durfte mich daraufhin wieder einloggen. Übrigens beides ohne Zwei-Faktor-Authentifizierung, die ich zwischenzeitlich ebenfalls eingeschaltet hatte... nach dem Einloggen sah ich dann, dass der Support mir erneut geschrieben hatte: Es hätte offenbar ein Missbrauch meines Accounts vorgelegen, ich solle sicherheitshalber mein Passwort ändern. ACH! Mehr habe ich nie gehört. Kein Hinweis darauf, wo die ominöse Kreditkarte herkam, nichts, was mir irgendwie geholfen hätte. Da stellte ich fest: Facebook ist auch, wenn man seine Passwörter schützt, die üblichen Vorsichtsmaßnahmen beachtet und auf seinen Account gut aufpasst, nicht sicher, und wenn etwas schief läuft, hilft einem niemand.

In der Folge deaktivierte ich meinen Account für eine Weile, um festzustellen, ob ich auch ohne Facebook auskomme. Traurige Nachricht: Gerade von den Menschen, die man nicht eh ständig trifft, erfährt man dann schnell nichts mehr, und auch Veranstaltungen verpasst man gelegentlich. Daher bin ich nun erstmal wieder zurück, habe meine Freundesliste noch gründlicher aussortiert (Vorbeugen gegen unvorsichtige Kontakte, die Spam weiterleiten) und überlege, welche Optionen es geben könnte...



Alice Merton: Radiokonzert in Erfurt

Sitzte im Büro, klingelt das Handy, ist der MDR dran, sagt du hast Karten für Alice Merton gewonnen. Wie cool! Buchste nen Bus und nen Zug nach Erfurt, schleifst ne Freundin von dort mit ins Kalif Storch, ziehst dir das mal rein.

Und was für eine gute Entscheidung das war! Alice Merton ist mit nur einer veröffentlichten Vier-Track-EP schon auf USA-Tour und für einige Zwischenstopps gerade wieder in Deutschland. "Wir haben für die fünf Tage jetzt sogar einen Tourbus, das ist richtig cool, also, nach fünf Tagen ist es vielleicht nicht mehr so cool, weil es dann etwas stinken wird", erzählt sie in perfektem Deutsch. Dabei hatte sie vorher noch angekündigt, dass sie normalerweise englisch redet und nur wegen der Radiozuhörer zu deutsch überredet wurde, eigentlich hätte sie immer Angst einen Fehler zu machen - sagt's und wechselt von einer Sekunde zur nächsten die Sprache als wäre es nichts. Später verfällt sie immer wieder ins Englische, "das ist so komisch auf der Bühne deutsch zu reden", sagt sie. Nur eines von vielen Zeichen, wie sympathisch Alice Merton rüberkommt.

Und sie redet eine ganze Menge - erzählt Geschichten zu ihren Songs, von ihrem Manager, der immer zu ihr gehalten hat, als sie immer und immer wieder bei Labels vorsprach und abgelehnt wurde, davon, wie sehr sie das jedes Mal getroffen hat, und wie sie das in ihrem Song "Holes" verarbeitet hat. Ich schreibe Songs aus Gründen, sagt sie, und dass es wie Therapie sei: "Das klingt immer wie so ein Klischee, aber so ist es wirklich". Und wir glauben es ihr sofort. "Holes" ist super tanzbar, aber man merkt ihr so sehr an, wie sie wieder an die darin verarbeiteten Situationen denkt, dass man sich kurz fragt, ob es okay ist, dazu zu tanzen. Bei manchen Songs wirkt sie nach den letzten Tönen richtig fertig, als hätte sie gerade etwas sehr emotionales durchlebt.

Gleichzeitig kann man bei ihrem Konzert aber auch eine Menge Spaß haben. Trotz der Emotionen wirkt sie nie negativ oder frustriert, sondern nur ehrlich, und natürlich gibt es auch schönere Geschichten, witzige und fiese. Wie von diesem Freund, der sie zwei Jahre lang ignorierte und dann, als der Erfolg kam, plötzlich wieder da war. "Ich bin nicht nachtragend... aber doch ein bisschen", singt sie. Und dass sie vor allem Angst hat, und aber auch weiß, dass sie sich damit das Leben kaputt macht, und dass man das nicht machen soll. Vermutlich habe ich mich lange nicht mehr oder noch nie so sehr mit den Inhalten einer Künstlerin auseinander gesetzt - dabei kam ich doch eigentlich auch vor allem dadurch auf sie, weil ihre Hitsingle "No Roots" so extrem eingängig und tanzbar ist.

Und wie gut der Rest erst tanzbar ist! "No Roots" streut sie recht beiläufig gegen Ende des Konzertes ein (und tatsächlich eskaliert das durchgehend unfassbar langweilige Publikum nichtmal da so richtig), aber das ist ok, denn wenn sie nicht gerade alleine am Klavier sitzt und intensive Balladen vorträgt, geht ihr Sound unfassbar gut in die Beine. Mit ihr sind drei weitere Musiker auf der Bühne, die alle in ihrem Alter sind und so wirken, als wären sie definitiv nicht als Profimusiker von irgendeinem Management gebucht worden. Alice Merton ist kein neues gepushtes Popsternchen am Himmel der großen Labels. Im Gegenteil - sie veröffentlichte bereits ihre erste EP auf ihrem eigenen Label, ein bedeutendes Detail, das sie bei der Geschichte zu ihrer Karriere bescheiden ausgelassen hat. Und wie sie wissen auch ihre Mitmusiker, was sie tun, stellen sich dabei stets in den Hintergrund, aber gelegentlich blitzt doch der Spaß an ihren Instrumenten durch, wenn krachende Gitarrenriffs eine Soundgrundlage schaffen, fette Synthesizer-Bässe erklingen oder die Bassdrum den Zuschauern in den Arsch tritt.

Was leider wirklich nur sehr schlecht funktioniert hat. Veranstalter des Konzertes war MDR Sputnik, Karten wurden nur unter Radiozuhörern (und Online-Followern) vergeben, der Anteil an vermutlich spontanen, wenig begeisterten Zuhörern war groß. Ein schwieriges Publikum, dem sich die Sängerin auf zweierlei Arten stellt: Zum einen zelebriert sie ihre Musik einfach trotzdem, bringt die Leute zwar nur schwer zum Tanzen, wohl aber zum Zuhören mit ihren Geschichten, ihrer unfassbar sympathischen Ausstrahlung und indem sie auf jeden der vereinzelten Zuschauerrufe direkt eingeht. Zum anderen wird mal dezent, mal weniger dezent zum Mitmachen aufgefordert, und etwa im letzten Drittel des Konzertes funktioniert das auch: "Bei dem nächsten Song lassen wir immer das Publikum springen, im Chorus", sagt sie, und als sie "Jump!" ins Mikrofon schreit, tun die Leute das tatsächlich - wir staunten nicht schlecht.

Vielleicht ist es ein bisschen höfliches Mitmachen, so wie auch immer wieder mitgeklatscht wird, vielleicht trauen sich die noch-nicht-Fans auch einfach nicht so recht. Auf jeden Fall hören wir nach dem Konzert viele Stimmen von positiv überraschten Zuschauern. Dass die Band selbst abbaut und selbst ihren eigenen Merch verkauft - Bonuspunkte. Wir möchten die sympathischen vier einfach knuddeln und vor allem: Bald wieder auf ein Konzert!


Wer nun reinschauen möchte: Zusammenschnitt MDR Sputnik



Musik-Neuentdeckungen 11/2017

Huch, ein ganzer Monat ohne Blogeinträge... ich war nachlässig, und vielbeschäftigt. Aber Musik gab es, und gar nicht so wenig!

Wie jeden Monat stelle ich hier die Lieder vor, die ich neu entdeckt habe - weil ich sie zu schätzen gelernt habe, weil sie nach langer Zeit wieder aufgetaucht sind oder weil sie einfach neu sind. Radio, Konzerte, Festivals und Empfehlungen von Freunden und Bloggern bringen immer wieder frischen Wind in meine Sammlung und die hier ausgewählten Titel, oft auch andere Titel der Band, möchte ich als Empfehlung an euch weitergeben. Aufgrund der schwierigen Lage in Deutschland gibt es meistens keine Links, aber über Google, Spotify & Co findet sich alles. Die in Klammern angegebenen Daten zeigen, wie ich auf das jeweilige Lied aufmerksam geworden bin.

Wise Guys - Du bist die Musik
Obwohl die Wise Guys damals noch nicht auf dem Höhepunkt ihres stimmlichen Könnens waren, war Wo der Pfeffer wächst schon ein beeindruckendes Album. Es zählt gar nicht zu meinen liebsten und ist auch eines der wenigen, die ich nicht selbst besitze, aber dennoch hat es seine Highlights und Du bist die Musik ist definitiv eins. Die Stimmung, die dort aufgebaut wird, ist trotz der wenigen Mittel sehr eindrucksvoll und damit bringt dieses Lied mehr rüber als viele der späteren Werke. Bemerkenswert ist auch, dass hier ausnahmsweise Effekte zum Einsatz kommen, was die Wise Guys sich in den meisten Phasen ihrer Karriere strikt verboten haben. Für die Aussage des Songsi st das aber in keiner Weise relevant.
Meredith Brooks - Bitch (Erstifahrt)
Ein alter Song, der noch nicht so richtig zum Klassiker geworden ist. Sollte er aber. Wer in den 90ern/2000ern Popmusik gehört hat, kam an Songs wie diesem nicht vorbei, und das ist auch gut so.
Noel Gallagher's High Flying Birds - Fort Knox (Musikexpress)
Von Noel Gallaghers nicht mehr so neuem Musikprojekt hielt ich bisher nicht so viel, zu poplastig war mir das alles. Aber dieser Titel hier von seiner neuen Scheibe hat mit Pop nichts mehr zu tun. Big Beat, fette Sounds, eine Soundwand wie aus einem Film, massiv wie die Mauern von Fort Knox halt. Auch stimmungsmäßig extrem passend. Sehr fett. Sehr gut.
Caravan Palace (Erstifahrt)
Von Electroswing hat man natürlich schonmal gehört, aber erst, als das bei der Erstifahrt stundenlang im Hintergrund lief, wurde mir klar, dass das eigentlich total zu meinem Geschmack passt. Tanzbare Beats, moderne Bässe gemischt mit Vintage-Bläsern, sehr schick. Caravan Palace ist wohl einer der bekannteren Vertreter und ich empfehle hiermit einfach deren Gesamtwerk.
Violent Femmes - Never Tell
Beim Couchsurfen habe ich seit langem mal wieder Platten gehört und dabei Violent Femmes kennengelernt. Als man in den 80ern noch nicht die Möglichkeit hatte, Musik digital am PC oder auf einem Handy zu hören, haben sich die Bands noch mehr Dynamik erlaubt. Es ist sehr schade und ein großes Problem, dass das heute unüblich ist, auch in meiner eigenen Band merken wir das immer wieder. Violent Femmes jedenfalls nahmen damals keine Rücksicht darauf, wie laut oder leise andere Bands sind, und knallen einem eine wilde Rocknummer nach der anderen um die Ohren. Reinhören, zum Beispiel in Never Tell, aber gerne auch in das ganze Album Hallowed Ground.


Musik-Neuentdeckungen 10/2017

Wie jeden Monat stelle ich hier die Lieder vor, die ich neu entdeckt habe - weil ich sie zu schätzen gelernt habe, weil sie nach langer Zeit wieder aufgetaucht sind oder weil sie einfach neu sind. Radio, Konzerte, Festivals und Empfehlungen von Freunden und Bloggern bringen immer wieder frischen Wind in meine Sammlung und die hier ausgewählten Titel, oft auch andere Titel der Band, möchte ich als Empfehlung an euch weitergeben. Aufgrund der schwierigen Lage in Deutschland gibt es meistens keine Links, aber über Google, Spotify & Co findet sich alles.

Pappschachtelmann - Das Buch
"Deutschsprachiger Indie-Rock, geprägt von melodiösem Bass- und Gitarrenspiel und abwechslungsreichem Schlagzeug und dies gepaart mit erdigem und bodenständigem Charme" - ich zitiere mal dankend die treffende Selbstbeschreibung dieser Chemnitzer Band.
Gloria - Immer noch da
Dass Gloria nur zwei Leute sind, hat mich schon überrascht, noch mehr allerdings, dass einer davon Mark Tavassol von Wir sind Helden ist. Immer noch da ist eigentlich "bloß ein Popsong", aber schön fluffig leicht, und ich mag ja Synthesizer, und irgendwie kann man sich das gut anhören.
Occupanther - Chimera feat. Claire
Alles, was Claire involviert, ist potenziell gut. Musik, die vor allem vom Beat lebt, ebenfalls. Na, sehr schön. Da könnt ihr Occupanther ja jetzt anhören.
Revolution Harmony - I Is Love For You
Musik für Musiker. Revolution Harmony sind zwei Musiker, die auf Youtube Tutorials zu Musiktheorie verbreiten, die meiner Meinung nach sehr gut sind. Manchmal schreiben sie auch selbst Songs und man, es ist großartig, was dabei heraus kommt, wenn man sich richtig Gedanken darüber macht, was man tut. Keine Instrumentalspur ist primitiv, überall passiert etwas, trotzdem trägt alles zur Gesamtstimmung bei statt sie zu zerstören. Auch die Brüche im Ablauf sind gewagt, aber gut. Wer sonst nicht darauf achtet, ob Musik komplex ist oder nicht, sollte sich I Is Love For You mal anhören, um zu hören, warum ich mich gelegentlich über simple Popmusik beschwere.
Grandbrothers - Long Forgotten Future
Man hört es der Musik von Grandbrothers nicht gleich an, was dahinter steckt, und auch, dass die beiden aus Düsseldorf kommen, ist nicht die erste Vermutung. Mit einem stark modifizierten Flügel und einer Menge Loop-Technik produzieren Grandbrothers elektronische Klaviermusik, die einen fesselt, alle Gedanken durcheinanderwirbelt und dann etwas glücklicher wieder freilässt.
Blue Oyster Cult - Don't Fear the Reaper
Eine Schlagzeugerin, der ich auf Youtube folge, hat diesen Song gecovert (und einige andere aus der Zeit, die teilweise hier schon auftauchten). Das Gitarrenriff klingt großartig, die Struktur des Songs ist interessant, es klingt alles wunderbar nach den 70ern und hey, eine Cowbell.


Fehlplanungen am Chemnitzer Campus

Vorhin schrieb ich an den ADFC Chemnitz. Anlass war die aktuelle Verkehrssituation am Hauptcampus der TU Chemnitz. Dort wird seit Anfang des Jahres kräftig gebaut - der begehbare begrünte Mittelstreifen wird gegen eine Straßenbahn ausgetauscht. Das Projekt war durchgehend sehr umstritten, der Ärger über die geopferten Bäume wich aber irgendwann dem leisen Gedanken "vielleicht ist eine Straßenbahn von der Uni zum Bahnhof ja doch ganz nett".

Reichenhainer Straße in Chemnitz kurz vor Fertigstellung des Umbaus 2017

Abgesehen davon, dass die Straßenbahnlinie nun aber gar nicht den gesamten Campus erfasst, wurde für den Umbau auch die Straße gravierend umstrukturiert: Einseitig wurden die Parkplätze abgeschafft, beidseitig der Radweg. Es gibt also auf der vielleicht am meisten von Radfahrern genutzten Straße in Chemnitz keinen Radweg mehr. Das war mir schon am Anfang aufgefallen, ich hatte bereits dann dem ADFC geschrieben und man antwortete mir:

Die Reichenhainer Str. wird ja quasi zur verkehrsberuhigten Zone, der Durchgangsverkehr wird ab dem neuen Kreisverkehr am Südbahnhof über die Fraunhofer-Str. in Richtung Südring gehen. Damit ergibt sich die Möglichkeit, den Radverkehr wieder direkt auf die Reichenhainer Straße zu bringen. Wenn es die Situation zulässt, ist das ein Ziel, welches der ADFC schon immer verfolgt. Die derzeitige Situation, daß Autofahrer denken, ihnen gehört die Straße allein kommt u.a. auch ein wenig daher, daß zu lange daran gearbeitet wurde, den Radverkehr außer Sichtweite des Autofahrers oder zumindest an den Rand einer für Kfz frei befahrbaren Straße zu drängen. Ziel sollte aber sein, auch den Chemnitzer Autofahrern und denen aus der Umgebung wieder das eigentlich Normale, das jederzeit in Gemeinden und Städten nahezu überall Radfahrer auf der Straße anzutreffen sind, in die Köpfe zu bringen.

Die für die Planung von Straßen und Wegen zugrunde liegenden Empfehlungen ERA legen den Planern nahe, bei gemischten Verkehrsgruppen auf einer Fahrbahn entweder die Straße eng zu halten, also nur um die 3,25m, damit der Radfahrer VOR dem Auto bleiben kann und nicht eng überholt wird ODER sehr weit zu halten (die angesprochenen >4m sind sehr gut) damit der Kfz-Verkehr in ausreichend großem Abstand entspannt überholen kann.

Wir sehen also den Umbauten auf der Reichenhainer und Reitbahnstr. erstmal entspannt entgegen.

Die Vorstellung, Autofahrer und Radfahrer könnten friedlich miteinander auf der Straße fahren, fand ich damals schon naiv und utopisch. Ich weiß auch nicht, wie ein Unterschied von 75cm in der Fahrbahnbreite dafür sorgt, dass Radfahrer nicht nur überholt, sondern sicher überholt werden können. Was daraus geworden ist, könnt ihr jedenfalls im Folgenden in meiner Antwort lesen.

[...] auch wenn auf die letzte Nachricht dann keine Antwort mehr kam, hier ein aktueller Zwischenbericht. An der Reichenhainer Straße ist inzwischen eine Fahrspur mehr oder weniger fertig - die Bordsteine sind da, die Parkplätze sind wieder errichtet worden, streckenweise ist also auf der Fahrbahn stadtauswärts alles so, wie es mal sein wird. Das heißt auch, es zeigt sich jetzt, ob es funktioniert, dass Radfahrer und Autofahrer vernünftig nebeneinander herfahren können.

Kurze Antwort: Nein. Entweder fahren die Radfahrer so, dass sie einen vernünftigen Sicherheitsabstand zum Rand haben - dann können die Autofahrer nicht überholen. Oder die Radfahrer fahren sehr randnah, dann überholen die Autofahrer, teils genervt und daher schnell und mit starker Beschleunigung (wie immer und überall) - ausreichend Sicherheitsabstand ist da nicht dabei.

Zurzeit dürfen Radfahrer die Spur auch entgegen der Fahrtrichtung benutzen, was einige weitere Beobachtungen ermöglicht. Erstens, auf Radfahrer, die entgegen der Fahrtrichtung fahren, wird teilweise (nicht immer) mehr Rücksicht genommen. Zweitens, ein wirklich sicheres Aneinandervorbeifahren ist nichtmal dann möglich, wenn die Autofahrer sehr nah am Rand fahren. Funktioniert also auch nicht.

Ganz davon ab: Nah am Rand fahren sollte weder für Autos noch für Fahrräder notwendig sein, denn da parken ja Autos und da wird auch gelegentlich mal eine Tür einfach aufgerissen.

Damit ist eigentlich alles gesagt. JETZT ist es natürlich zu spät, denn die Stadt hat offensichtlich großen Druck ausgeübt, um das ganze Projekt voran zu bringen, die Bauarbeiten werden also bald abgeschlossen sein und dann wird sich da nichts mehr tun. Die Reichenhainer Straße wird sicherlich nicht lebensgefährlich nach dem Umbau und man muss sagen, dass es immerhin ein Vorteil ist, dass auf der stadteinwärts führenden Seite die Parkplätze wegreduziert wurden - denn dort geht es heftig bergab und man lief als Radfahrer bisher Gefahr, bei hoher Geschwindigkeit eine Autotür abzubekommen. Dennoch denke ich, dass klar markierte Radwege auf der Straße wesentlich sicherer sind als keine Radwege.

Aus meiner Sicht war also der Verzicht auf einen Radweg auf der neuen Reichenhainer Straße eine totale Fehlentscheidung und es ist mir unbegreiflich, wie der ADFC, die einzige Lobby für Radfahrer und damit die vermutlich einzige Organisation, der man vielleicht zugehört hätte, das auch noch befürworten konnte. Chemnitz' wichtigste Uni-Straße hat damit deutlich an Attraktivität verloren.



Musik-Neuentdeckungen 09/2017

Wie jeden Monat stelle ich hier die Lieder vor, die ich neu entdeckt habe - weil ich sie zu schätzen gelernt habe, weil sie nach langer Zeit wieder aufgetaucht sind oder weil sie einfach neu sind. Radio, Konzerte, Festivals und Empfehlungen von Freunden und Bloggern bringen immer wieder frischen Wind in meine Sammlung und die hier ausgewählten Titel, oft auch andere Titel der Band, möchte ich als Empfehlung an euch weitergeben. Aufgrund der schwierigen Lage in Deutschland gibt es meistens keine Links, aber über Google, Spotify & Co findet sich alles.

Now, Now - Yours
Manchmal erweisen sich Empfehlungen anderer Künstler als Treffer, manchmal als verwirrend abwegig. Das hier war ein Treffer - auch wenn ich ihn von Hayley Williams nicht erwartet hätte. Synthesizer! Hab ich mal erwähnt, dass ich Synthesizer mag? Das hier hat Einflüsse von 80er-Rock und mag sich dadurch nicht in die Popschiene stecken lassen, obwohl es heutzutage noch am ehesten dahin gehört. Wie auch immer. Synthesizer!
MC Skule, Anne Hilliard & IV Green - 99 Math Problems (minkorrekt Podcast)
Ein Rap über Mathematik von einem Haufen Schulkinder... und es ist tatsächlich cool. Der Beat ist gut und die Kinder klingen nicht wie nervige kleine Kinder, sondern gut. Außerdem steckt ein cooles Projekt dahinter. Angucken!
Liz Gillies - Wild Horses (Rolling Stones Cover)
Das haben wir letztes Jahr bei TEN SING gespielt und es ist einfach so schön. Muss hier mal erwähnt werden.
Kate Harmony


Was Armut für Studenten in Deutschland bedeutet

Das Attribut "arm" schreibt sich niemand gerne zu. Es verleiht einem ein Stigma, bei dem Menschen an zerrissene Kleidung und Hunger denken. Bei Armut denken wir an leidende afrikanische Kinder. Alles ist relativ, klar. Das Thema lebensgefährdende Armut klammere ich heute aber mal aus zugunsten offener Worte zur existenzgefährdenden Armut, wie wir sie auch in den EU-Ländern und damit auch in Deutschland vorfinden.

Laut Wikipedia definieren EU-Statistiker Armut als ein Netto-Einkommen von weniger als 40% vom Median des Netto-Äquivalenzeinkommens. Der Einfachheit halber reden wir mal von erwachsenen, allein lebenden Menschen wie mir und vielen anderen Studenten, damit ist das Äquivalenzeinkommen gleich dem Einkommen (Umrechnungsfaktoren für im Haushalt der Eltern lebende Kinder usw. entfallen). 2015 war in Deutschland damit also arm, wer 688 Euro oder weniger netto zur Verfügung hatte, um seine sämtlichen Ausgaben zu decken.

Als Vergleich, weil viele daran denken werden: Das entspricht in einer Stadt mit niedrigen Mieten wie meinem aktuellen Wohnort Chemnitz ziemlich genau dem, was ein ALG II-Empfänger hat (die 409 Euro plus die vom Amt bezahlte Miete für eine typische Einzimmerwohnung). Und noch ein Gedankenanstoß: Der BAFöG-Höchstsatz, der nicht vom Wohnort abhängt, liegt zurzeit bei 735 Euro. Studenten sind übrigens im Hartz IV-System nicht vorgesehen, wer kein BAFöG bekommt, hat Pech.

Seit letztem Herbst habe ich im Wesentlichen von einem Minijob (450-Euro-Job) zum Mindestlohn gelebt. Dazu kam Unterhalt von meiner Mutter und Wohngeld vom Sozialamt. Die Summe, die mir dadurch zur Verfügung stand, war ähnlich knapp über der oben genannten Armutsgrenze. Um mit Mindestlohn auf die 450 Euro zu kommen, muss man im Monat 50,9 Stunden arbeiten. In meinem Fall: neben dem Studium. Man sieht schon jetzt, an wie vielen Themen man anknüpfen könnte, über wieviel Ungerechtigkeit man sich ärgern könnte. Ich möchte aber gar nicht behaupten, dass ich ein schlechtes Leben hatte, denn durch den Status als Student hatte ich immerhin genug Freizeit und ich habe meinen Job sehr gerne ausgeübt. Was ich aber wirklich nicht hatte, war Geld, und in diesem Artikel möchte ich einfach mal ein paar Beispiele geben, was "jeden Cent umdrehen" für Studenten in meiner Lage wirklich bedeutet.

Fangen wir mal mit der Wohnung an. Aufgrund von Schimmelproblemen musste ich im Frühjahr umziehen. Obwohl ich nur einen Transporter mietete und zwei Eimer Farbe kaufte, brauchte der Umzug alle meine Geldreserven auf. Die Kaution trieb mein Konto in den Dispo, denn man muss ja stets die neue Kaution schon bezahlen, wenn man die alte noch gar nicht zurück bekommen hat. Das macht besonders viel Freude, wenn man genau weiß, dass die alte Wohnung schon wieder bewohnt ist, aber die Kaution erst in drei Monaten ausgezahlt wird. Als dann etwas später der Gefrierschrank kaputt ging, musste ich das neue Gerät auf Ratenkredit anschaffen.

Nach der Miete ist der dickste feste Kostenpunkt im Monat die Krankenversicherung. Die zahlt aber leider nur den Arzt - Medikamente sind bitte selber zu tragen (hurra Privatrezept). Da steht man dann schonmal in der Apotheke und sagt dem Menschen, dass man bitte nur dieses und jenes Medikament möchte, weil man sich nicht alle drei leisten kann. Zuzahlungen für notwendige Medikamente wegen chronischen Krankheiten sind ebenso erfreulich wie die 10€ Zuzahlung, wenn man mal einen Krankenwagen rufen muss (okay, kommt sehr selten vor). 2% vom Jahres-Bruttoeinkommen sind die Grenze, ab der die Krankenkasse einen von den Zuzahlungen befreit, darauf werden auf Privatrezept ausgestellte Medikamente aber nicht angerechnet und für eben die gilt die Befreiung dann auch nicht. In der Folge gehe ich bei Erkältungen und ähnlichem gar nicht mehr zum Arzt, weil der eh nichts macht außer Medikamente zu verschreiben, die zwar helfen, aber zu teuer sind.

Weitere 15,50€ verschwinden jeden Monat ungenutzt für den Rundfunkbeitrag. Befreit wird davon nur, wer BAFöG oder z.B. ALG II bezieht, Wohngeldempfänger haben, zumindest ohne Anwalt, keine Chance. Und wer kann sich schon einen Anwalt leisten, wenn er sich den Rundfunkbeitrag nicht leisten kann?

Gut sparen kann man bei Lebensmitteln. In harten Monaten drücke ich meine Ausgaben in dem Bereich um bis zu 40%. Das heißt: Kein Dessert (Pudding für 29 Cent), keine Brötchen (und zwar gar keine - vom Bäcker nichtmal in guten Monaten), Obst und Gemüse nur im Angebot, alles andere vom Discounter und auch mal drei Tage die Woche Tiefkühlfritten ohne Beilage, weil die ein gutes "satt für Geld"-Verhältnis haben. Und zum Frühstück Haferflocken mit Milch (gut, dass wir die Milchbauern ausbeuten, dafür reicht das Geld sogar in schlechten Monaten). Studentisches Klischee von Nudeln mit Ketchup? Am Arsch, Ketchup ist definitiv zu teuer. Nudeln mit Margarine sind ok (und tatsächlich gelegentlich auch in Ordnung). Sowieso: Butter ist geradezu dekadent. Hat jemand Bio oder Fair Trade gesagt? Ich lache laut (nein, eigentlich nicht, weil mir das eigentlich wichtig wäre). Oh, und ich habe ausgerechnet, wieviel Klopapier man sparen kann, je nachdem wieviele Blätter man so verwendet.

Über Freizeit müssen wir gar nicht erst reden. Ich habe in meinem Haushalt jede Kiste auf den Kopf gestellt und das ein oder andere Teil gefunden, das sich per Kleinanzeige zu Geld machen ließ, so konnte ich mir tatsächlich Konzertkarten und einen Besuch bei einer Freundin in Hessen erlauben. Das war's dann aber auch. Unser Probenraum hat immer noch keine ordentliche Heizung und auf Partys bin ich meistens der Schnorrer (zum Glück gibt es Kommilitonen, die BAFöG-Höchstsatz bekommen und das ok finden).

Es ist unfassbar frustrierend, sich wirklich über jeden verdammten Cent Gedanken machen zu müssen. Deswegen kriege ich einen Kotzreiz, wenn Leute mir vorschlagen, ich solle doch was zurücklegen, wenn ich endlich mal zu etwas Geld komme. Wer von gar nichts lebt und sich nichts leisten kann, legt definitiv nicht als erstes Geld zurück. Man mag darüber streiten, ob es klug war, von meinem aktuellen Geldsegen 250g Fair Trade-Bio-Kaffee für 4,50 Euro zu kaufen, aber ich MAG diesen Kaffee.

Sowieso habe ich gerade nur Geld durch einen weiteren Kredit, den Bildungskredit des Bundes (Bundesverwaltungsamt). Den kann ich tatsächlich guten Gewissens empfehlen. Natürlich mache ich mir weiterhin viele Gedanken darüber, wie sich meine Finanzen entwickeln, alleine schon, weil ich in Vergangenheit lernen musste, dass man auch schnell mal einen Monat 150 Euro zu wenig hat, weil das Amt Mist gebaut hat. Rückzahlungen sind nur deswegen so schön, weil die Zeit, wo man das Geld noch nicht hatte, so unfassbar hart war, weil man es eigentlich wirklich dringend gebraucht hätte. Trotzdem schmeiße ich gerade in ungefähr jede Mahlzeit Hirtenkäse rein, einfach, weil ich es kann. (Hirtenkäse zu Bratkartoffeln? Supergeil.)

Kein Geld zurück zu legen heißt also nicht, dass man nicht an die Zukunft denkt. Wer kein Geld hat, denkt permanent darüber nach. Aber genau deswegen "gönnt" man sich ja erstmal was: Weil ohne Geld eben vieles scheiße ist. Und weil man nach so einer Phase wirklich immer mit seinem Geld auskommen wird, denn es ist unglaublich, wie weit man seinen Lebensstandard runterschrauben kann. Und eins steht fest: Sollte ich mal von Hartz IV betroffen sein, ziehe ich nach Berlin.