Alice Merton: Radiokonzert in Erfurt


Sitzte im Büro, klingelt das Handy, ist der MDR dran, sagt du hast Karten für Alice Merton gewonnen. Wie cool! Buchste nen Bus und nen Zug nach Erfurt, schleifst ne Freundin von dort mit ins Kalif Storch, ziehst dir das mal rein.

Und was für eine gute Entscheidung das war! Alice Merton ist mit nur einer veröffentlichten Vier-Track-EP schon auf USA-Tour und für einige Zwischenstopps gerade wieder in Deutschland. "Wir haben für die fünf Tage jetzt sogar einen Tourbus, das ist richtig cool, also, nach fünf Tagen ist es vielleicht nicht mehr so cool, weil es dann etwas stinken wird", erzählt sie in perfektem Deutsch. Dabei hatte sie vorher noch angekündigt, dass sie normalerweise englisch redet und nur wegen der Radiozuhörer zu deutsch überredet wurde, eigentlich hätte sie immer Angst einen Fehler zu machen - sagt's und wechselt von einer Sekunde zur nächsten die Sprache als wäre es nichts. Später verfällt sie immer wieder ins Englische, "das ist so komisch auf der Bühne deutsch zu reden", sagt sie. Nur eines von vielen Zeichen, wie sympathisch Alice Merton rüberkommt.

Und sie redet eine ganze Menge - erzählt Geschichten zu ihren Songs, von ihrem Manager, der immer zu ihr gehalten hat, als sie immer und immer wieder bei Labels vorsprach und abgelehnt wurde, davon, wie sehr sie das jedes Mal getroffen hat, und wie sie das in ihrem Song "Holes" verarbeitet hat. Ich schreibe Songs aus Gründen, sagt sie, und dass es wie Therapie sei: "Das klingt immer wie so ein Klischee, aber so ist es wirklich". Und wir glauben es ihr sofort. "Holes" ist super tanzbar, aber man merkt ihr so sehr an, wie sie wieder an die darin verarbeiteten Situationen denkt, dass man sich kurz fragt, ob es okay ist, dazu zu tanzen. Bei manchen Songs wirkt sie nach den letzten Tönen richtig fertig, als hätte sie gerade etwas sehr emotionales durchlebt.

Gleichzeitig kann man bei ihrem Konzert aber auch eine Menge Spaß haben. Trotz der Emotionen wirkt sie nie negativ oder frustriert, sondern nur ehrlich, und natürlich gibt es auch schönere Geschichten, witzige und fiese. Wie von diesem Freund, der sie zwei Jahre lang ignorierte und dann, als der Erfolg kam, plötzlich wieder da war. "Ich bin nicht nachtragend... aber doch ein bisschen", singt sie. Und dass sie vor allem Angst hat, und aber auch weiß, dass sie sich damit das Leben kaputt macht, und dass man das nicht machen soll. Vermutlich habe ich mich lange nicht mehr oder noch nie so sehr mit den Inhalten einer Künstlerin auseinander gesetzt - dabei kam ich doch eigentlich auch vor allem dadurch auf sie, weil ihre Hitsingle "No Roots" so extrem eingängig und tanzbar ist.

Und wie gut der Rest erst tanzbar ist! "No Roots" streut sie recht beiläufig gegen Ende des Konzertes ein (und tatsächlich eskaliert das durchgehend unfassbar langweilige Publikum nichtmal da so richtig), aber das ist ok, denn wenn sie nicht gerade alleine am Klavier sitzt und intensive Balladen vorträgt, geht ihr Sound unfassbar gut in die Beine. Mit ihr sind drei weitere Musiker auf der Bühne, die alle in ihrem Alter sind und so wirken, als wären sie definitiv nicht als Profimusiker von irgendeinem Management gebucht worden. Alice Merton ist kein neues gepushtes Popsternchen am Himmel der großen Labels. Im Gegenteil - sie veröffentlichte bereits ihre erste EP auf ihrem eigenen Label, ein bedeutendes Detail, das sie bei der Geschichte zu ihrer Karriere bescheiden ausgelassen hat. Und wie sie wissen auch ihre Mitmusiker, was sie tun, stellen sich dabei stets in den Hintergrund, aber gelegentlich blitzt doch der Spaß an ihren Instrumenten durch, wenn krachende Gitarrenriffs eine Soundgrundlage schaffen, fette Synthesizer-Bässe erklingen oder die Bassdrum den Zuschauern in den Arsch tritt.

Was leider wirklich nur sehr schlecht funktioniert hat. Veranstalter des Konzertes war MDR Sputnik, Karten wurden nur unter Radiozuhörern (und Online-Followern) vergeben, der Anteil an vermutlich spontanen, wenig begeisterten Zuhörern war groß. Ein schwieriges Publikum, dem sich die Sängerin auf zweierlei Arten stellt: Zum einen zelebriert sie ihre Musik einfach trotzdem, bringt die Leute zwar nur schwer zum Tanzen, wohl aber zum Zuhören mit ihren Geschichten, ihrer unfassbar sympathischen Ausstrahlung und indem sie auf jeden der vereinzelten Zuschauerrufe direkt eingeht. Zum anderen wird mal dezent, mal weniger dezent zum Mitmachen aufgefordert, und etwa im letzten Drittel des Konzertes funktioniert das auch: "Bei dem nächsten Song lassen wir immer das Publikum springen, im Chorus", sagt sie, und als sie "Jump!" ins Mikrofon schreit, tun die Leute das tatsächlich - wir staunten nicht schlecht.

Vielleicht ist es ein bisschen höfliches Mitmachen, so wie auch immer wieder mitgeklatscht wird, vielleicht trauen sich die noch-nicht-Fans auch einfach nicht so recht. Auf jeden Fall hören wir nach dem Konzert viele Stimmen von positiv überraschten Zuschauern. Dass die Band selbst abbaut und selbst ihren eigenen Merch verkauft - Bonuspunkte. Wir möchten die sympathischen vier einfach knuddeln und vor allem: Bald wieder auf ein Konzert!


Wer nun reinschauen möchte: Zusammenschnitt MDR Sputnik