Gerade habe ich meine ersten Hausaufgaben seit ungefähr viereinhalb Jahren gemacht, das erste Übungsblatt für Höhere Mathematik. Seit drei Wochen studiere ich wieder - Sensorik und kognitive Psychologie an der TU in Chemnitz, wo ich seit zwei Tage vor Semesterbeginn auch wohne.
Das Aufgabenblatt hat die erste wirklich erschreckende Erkenntnis gebracht. Im Osten sprechen nicht alle fürchterliches Sächsisch, der Bäcker hat mehr Brotsorten als "Brot", die Straßen und Häuser sind nicht mehr kaputt und überhaupt ist es hier eigentlich sehr schön und die Menschen sind ausgesprochen nett. Nein, viel schlimmer ist: Meine Mathefähigkeiten sind ungefähr auf das Niveau der 10. Klasse gesunken. Winkelfunktionen gehen so gerade noch, Polynomdivision auf keinen Fall, und egal welche Art von Aufgabe es ist, sie zu lösen dauert ewig und ist unglaublich anstrengend.
Möglicherweise werde ich während des Studiums sogar lernen, wieso das so ist. Die einfache Erklärung ist natürlich, weil es lange her ist, aber das ist ja sehr unwissenschaftlich. Die genauere Funktionsweise des Gedächtnisses ist Teil der Forschung in der kognitiven Psychologie, genau dem Bereich, der zu meinem Studium gehört. Außerdem geht's um Wahrnehmung, um Verarbeitung von Sinnesreizen und darum, wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Mit der Frage, ob der Baum da draußen wirklich ein Baum ist, wie einer der Makler bei der Wohnungssuche fragte, beschäftigen wir uns nicht; wohl aber damit, wieso wir erkennen, dass es ein Baum ist.
Im physikalischen Bereich behandeln wir zurzeit nur Grundlagen, aber im Kognitionsseminar merkt man schon, worauf das Ganze abzielt: Das erste Referatsthema ist Psychophysik und bildgebende Verfahren - was tut unser Gehirn aus physikalischer Perspektive und wie können wir das sichtbar machen? Überhaupt haben wir hier sehr viele Seminare, Übungen, Sprechstunden, Tutorien, bei denen es niemanden interessiert, ob wir daran teilnehmen oder auf Costa Rica in der Hängematte liegen, die aber ausgesprochen nützlich sind, weil sie dem Studium Sinn geben und Schwierigkeiten nehmen. Vielleicht ist das der Grund, warum die TU Chemnitz hier einen sehr guten Ruf hat.
Überhaupt sollte man sich nicht davon abschrecken lassen, in den Osten zu ziehen. Ich wohne in einem 70er-Jahre-Haus im Erdgeschoss. Es ist kein Plattenbau, aber auch die sind nicht so schlimm, sagen einige, die in einem wohnen. Mein Bad hat Klarsichtglas (wtf?), dafür hat das Haus sowohl Kellerparzellen als auch Bodenkammern (nochmal das gleiche auf dem ausgebauten Dachboden) für jeden Mieter - 20m² Lagerfläche geschenkt. Von den Nachbarn hört man recht viel, von draußen dafür gar nichts. Die Busse fahren langsam, dafür aber oft und auch werktags die ganze Nacht durch. Außerdem kosten sie viel weniger als im Ruhrgebiet.
Während einige Studenten fluchen, dass sie auf jeden Fall wieder weg ziehen, wenn sie fertig sind, habe ich auch schon Leute getroffen, die zum Studieren her kamen und danach geblieben sind. Mir ist das momentan ziemlich egal - ich möchte vor allem mal längere Zeit im Ausland verbringen und werde mich nun erstmal auf die anstehenden Vorträge zum Thema Auslandssemester stürzen. Und meine Matheskills aufarbeiten. Alles weitere wird sich dann schon ergeben.