Das Attribut "arm" schreibt sich niemand gerne zu. Es verleiht einem ein Stigma, bei dem Menschen an zerrissene Kleidung und Hunger denken. Bei Armut denken wir an leidende afrikanische Kinder. Alles ist relativ, klar. Das Thema lebensgefährdende Armut klammere ich heute aber mal aus zugunsten offener Worte zur existenzgefährdenden Armut, wie wir sie auch in den EU-Ländern und damit auch in Deutschland vorfinden.
Laut Wikipedia definieren EU-Statistiker Armut als ein Netto-Einkommen von weniger als 40% vom Median des Netto-Äquivalenzeinkommens. Der Einfachheit halber reden wir mal von erwachsenen, allein lebenden Menschen wie mir und vielen anderen Studenten, damit ist das Äquivalenzeinkommen gleich dem Einkommen (Umrechnungsfaktoren für im Haushalt der Eltern lebende Kinder usw. entfallen). 2015 war in Deutschland damit also arm, wer 688 Euro oder weniger netto zur Verfügung hatte, um seine sämtlichen Ausgaben zu decken.
Als Vergleich, weil viele daran denken werden: Das entspricht in einer Stadt mit niedrigen Mieten wie meinem aktuellen Wohnort Chemnitz ziemlich genau dem, was ein ALG II-Empfänger hat (die 409 Euro plus die vom Amt bezahlte Miete für eine typische Einzimmerwohnung). Und noch ein Gedankenanstoß: Der BAFöG-Höchstsatz, der nicht vom Wohnort abhängt, liegt zurzeit bei 735 Euro. Studenten sind übrigens im Hartz IV-System nicht vorgesehen, wer kein BAFöG bekommt, hat Pech.
Seit letztem Herbst habe ich im Wesentlichen von einem Minijob (450-Euro-Job) zum Mindestlohn gelebt. Dazu kam Unterhalt von meiner Mutter und Wohngeld vom Sozialamt. Die Summe, die mir dadurch zur Verfügung stand, war ähnlich knapp über der oben genannten Armutsgrenze. Um mit Mindestlohn auf die 450 Euro zu kommen, muss man im Monat 50,9 Stunden arbeiten. In meinem Fall: neben dem Studium. Man sieht schon jetzt, an wie vielen Themen man anknüpfen könnte, über wieviel Ungerechtigkeit man sich ärgern könnte. Ich möchte aber gar nicht behaupten, dass ich ein schlechtes Leben hatte, denn durch den Status als Student hatte ich immerhin genug Freizeit und ich habe meinen Job sehr gerne ausgeübt. Was ich aber wirklich nicht hatte, war Geld, und in diesem Artikel möchte ich einfach mal ein paar Beispiele geben, was "jeden Cent umdrehen" für Studenten in meiner Lage wirklich bedeutet.
Fangen wir mal mit der Wohnung an. Aufgrund von Schimmelproblemen musste ich im Frühjahr umziehen. Obwohl ich nur einen Transporter mietete und zwei Eimer Farbe kaufte, brauchte der Umzug alle meine Geldreserven auf. Die Kaution trieb mein Konto in den Dispo, denn man muss ja stets die neue Kaution schon bezahlen, wenn man die alte noch gar nicht zurück bekommen hat. Das macht besonders viel Freude, wenn man genau weiß, dass die alte Wohnung schon wieder bewohnt ist, aber die Kaution erst in drei Monaten ausgezahlt wird. Als dann etwas später der Gefrierschrank kaputt ging, musste ich das neue Gerät auf Ratenkredit anschaffen.
Nach der Miete ist der dickste feste Kostenpunkt im Monat die Krankenversicherung. Die zahlt aber leider nur den Arzt - Medikamente sind bitte selber zu tragen (hurra Privatrezept). Da steht man dann schonmal in der Apotheke und sagt dem Menschen, dass man bitte nur dieses und jenes Medikament möchte, weil man sich nicht alle drei leisten kann. Zuzahlungen für notwendige Medikamente wegen chronischen Krankheiten sind ebenso erfreulich wie die 10€ Zuzahlung, wenn man mal einen Krankenwagen rufen muss (okay, kommt sehr selten vor). 2% vom Jahres-Bruttoeinkommen sind die Grenze, ab der die Krankenkasse einen von den Zuzahlungen befreit, darauf werden auf Privatrezept ausgestellte Medikamente aber nicht angerechnet und für eben die gilt die Befreiung dann auch nicht. In der Folge gehe ich bei Erkältungen und ähnlichem gar nicht mehr zum Arzt, weil der eh nichts macht außer Medikamente zu verschreiben, die zwar helfen, aber zu teuer sind.
Weitere 15,50€ verschwinden jeden Monat ungenutzt für den Rundfunkbeitrag. Befreit wird davon nur, wer BAFöG oder z.B. ALG II bezieht, Wohngeldempfänger haben, zumindest ohne Anwalt, keine Chance. Und wer kann sich schon einen Anwalt leisten, wenn er sich den Rundfunkbeitrag nicht leisten kann?
Gut sparen kann man bei Lebensmitteln. In harten Monaten drücke ich meine Ausgaben in dem Bereich um bis zu 40%. Das heißt: Kein Dessert (Pudding für 29 Cent), keine Brötchen (und zwar gar keine - vom Bäcker nichtmal in guten Monaten), Obst und Gemüse nur im Angebot, alles andere vom Discounter und auch mal drei Tage die Woche Tiefkühlfritten ohne Beilage, weil die ein gutes "satt für Geld"-Verhältnis haben. Und zum Frühstück Haferflocken mit Milch (gut, dass wir die Milchbauern ausbeuten, dafür reicht das Geld sogar in schlechten Monaten). Studentisches Klischee von Nudeln mit Ketchup? Am Arsch, Ketchup ist definitiv zu teuer. Nudeln mit Margarine sind ok (und tatsächlich gelegentlich auch in Ordnung). Sowieso: Butter ist geradezu dekadent. Hat jemand Bio oder Fair Trade gesagt? Ich lache laut (nein, eigentlich nicht, weil mir das eigentlich wichtig wäre). Oh, und ich habe ausgerechnet, wieviel Klopapier man sparen kann, je nachdem wieviele Blätter man so verwendet.
Über Freizeit müssen wir gar nicht erst reden. Ich habe in meinem Haushalt jede Kiste auf den Kopf gestellt und das ein oder andere Teil gefunden, das sich per Kleinanzeige zu Geld machen ließ, so konnte ich mir tatsächlich Konzertkarten und einen Besuch bei einer Freundin in Hessen erlauben. Das war's dann aber auch. Unser Probenraum hat immer noch keine ordentliche Heizung und auf Partys bin ich meistens der Schnorrer (zum Glück gibt es Kommilitonen, die BAFöG-Höchstsatz bekommen und das ok finden).
Es ist unfassbar frustrierend, sich wirklich über jeden verdammten Cent Gedanken machen zu müssen. Deswegen kriege ich einen Kotzreiz, wenn Leute mir vorschlagen, ich solle doch was zurücklegen, wenn ich endlich mal zu etwas Geld komme. Wer von gar nichts lebt und sich nichts leisten kann, legt definitiv nicht als erstes Geld zurück. Man mag darüber streiten, ob es klug war, von meinem aktuellen Geldsegen 250g Fair Trade-Bio-Kaffee für 4,50 Euro zu kaufen, aber ich MAG diesen Kaffee.
Sowieso habe ich gerade nur Geld durch einen weiteren Kredit, den Bildungskredit des Bundes (Bundesverwaltungsamt). Den kann ich tatsächlich guten Gewissens empfehlen. Natürlich mache ich mir weiterhin viele Gedanken darüber, wie sich meine Finanzen entwickeln, alleine schon, weil ich in Vergangenheit lernen musste, dass man auch schnell mal einen Monat 150 Euro zu wenig hat, weil das Amt Mist gebaut hat. Rückzahlungen sind nur deswegen so schön, weil die Zeit, wo man das Geld noch nicht hatte, so unfassbar hart war, weil man es eigentlich wirklich dringend gebraucht hätte. Trotzdem schmeiße ich gerade in ungefähr jede Mahlzeit Hirtenkäse rein, einfach, weil ich es kann. (Hirtenkäse zu Bratkartoffeln? Supergeil.)
Kein Geld zurück zu legen heißt also nicht, dass man nicht an die Zukunft denkt. Wer kein Geld hat, denkt permanent darüber nach. Aber genau deswegen "gönnt" man sich ja erstmal was: Weil ohne Geld eben vieles scheiße ist. Und weil man nach so einer Phase wirklich immer mit seinem Geld auskommen wird, denn es ist unglaublich, wie weit man seinen Lebensstandard runterschrauben kann. Und eins steht fest: Sollte ich mal von Hartz IV betroffen sein, ziehe ich nach Berlin.