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Erfahrung schafft Vorstellung

Ich hatte gerade eine interessante Erkenntnis: Während man auf Social Media den Eindruck gewinnt, alle würden überall auf die absurdesten Weisen gendern, sieht die Sachlage offenbar ganz anders aus. Der BGH hat 2018 noch geurteilt, nichtmal Einzelpersonen müssen mit dem korrekten Geschlecht angesprochen werden, geklagt hatte eine Kundin, die nicht "der Empfänger" des Kontoauszugs sein wollte. Und ausgerechnet Die Linke hat 2019 beschlossen, dass sie "Leserinnen und Leser" schreiben statt Leser*innen. Begründung: Kann ja kein Mensch und keine Maschine lesen sonst. Das Argument der Maschinenlesbarkeit ist übrigens hochspannend, betrifft es doch z.B. Blinde, die sich von ihrem Computer Texte vorlesen lassen - was schon mit dem Rest der deutschen Sprache schwierig genug ist.

Nun finde ich die Unfähigkeit der Sparkasse, anhand des eindeutig bekannten Geschlechts einer Kundin einen sowieso existenten Begriff korrekt auszuwählen, zunächst einmal bedauerlich. Es gibt viele Stellen, an denen man ganz simpel Alltagsdiskriminierung reduzieren kann: In Formularen kann man auch "divers" als Geschlecht anbieten. Das Geschlecht sollte auf Webseiten nicht vorausgewählt sein. Zwei Zeilen Code im Skript machen aus einem sperrigen "Sehr geehrte*r Herr/Frau Bankkund:in" eine passende Formulierung. Es gibt sogar Fälle, in denen es neben dem zusätzlichen Aufwand auch Fortschritte bringt: In Studien könnte man ruhig öfter hinterfragen, ob das Geschlecht überhaupt erfasst werden muss, und falls ja, ob das biologische oder das soziale. Geht es also um Einzelpersonen, scheinen mir die Vorteile sofort den Aufwand zu überwiegen, und in der Tat haben sich die genannten Beispiele weitläufig durchgesetzt. Naja, außer bei der Sparkasse offenbar, zumindest 2018 noch.

Geht es um mehrere, noch dazu unbekannte Personen, ist die Lage wesentlich weniger klar. Was wäre hier die Wunschvorstellung? Ein viel angesprochener Aspekt, der mir auch wichtig ist, ist die Frage nach der mentalen Vorstellung beim Lesen / Hören eines geschlechtsbezogenen Begriffs, oftmals eines Berufs. Woran denkt man beim generischen Maskulinum? Sind "Lehrer" Männer oder Frauen? Ärzte? Kassierer? Verkäufer? Erzieher? Busfahrer? Wie schwierig das Thema ist, fällt mir schon beim Schreiben wieder auf, weil ich gar nicht alle diese Begriffe gleich häufig im Alltag verwendet sehe. "Kassiererinnen" z.B. ist ein viel häufiger gehörter Plural in meinem Umfeld. Wissenschaftlich unumstritten und auch mir persönlich sofort klar ist: Zu vielen Berufsgruppen gehört eine klare Vorstellung, ob das eher Frauen oder eher Männer sind, und von diesen haben viele Menschen auch ein Bild im Kopf. Dieses Bild im Kopf vielfältig zu bekommen - das wäre das Ziel.

Nun scheint da eine verbreitete Haltung zu sein, dass Sprache Realität schafft: Tauchen Begriffe auf, die beide (oder alle) Geschlechter einbeziehen, denken die Personen, die diese Begriffe lesen oder hören, auch eher daran. Nachdem einer meiner Professoren recht konsequent stets "Arbeiter innen" mit gesprochener Pause sagte, stellte ich bei mir selbst fest, dass das mein Bild im Kopf absolut nicht verändert. Aber ich bin nur eine einzelne Person und man sollte meinen, das könnte man gut wissenschaftlich untersuchen - bedauerlicherweise bietet das Seminar zum Thema an meiner Uni genau ein Paper zur Bearbeitung an, das sich nur mit der Variante "Lehrerinnen und Lehrer" beschäftigt, und das findet da nur einen kleinen Effekt in einem sehr spezifischen Fall, den es dann sehr groß diskutiert. Ich war frustriert, dass selbst in der Wissenschaft sachliche Diskussion offenbar schwer ist, und stellte die Recherche vorerst ein.

Das mit der Sprache ist aber in der Tat ein Problem. Das Englische hat die ganze Problematik schlicht nicht: Es gibt keine geschlechterspezifischen Artikel usw. und nahezu alle Begriffe sind generisch. Im Deutschen hingegen kann man stets durch Endung eine weibliche Form bilden und "die Arzt" ist schlicht sprachlich falsch. Ich wäre ein Fan eines neutralen Artikels - aber durch das Vorhandensein der weiblichen Formen würde das auch absurd wirken.

Also zurück zur Wunschvorstellung. Ohne Berücksichtigung des dritten Geschlechts könnte man einfach bei "Busfahrerinnen und Busfahrer" bleiben - das ist etwas lang, aber eindeutig, gut lesbar, jeder weiß was gemeint ist und Computer können es vorlesen, und man hätte sofort das entsprechende Bild im Kopf. Außerdem könnte man sich anpassen, wenn die Gruppe bekannt ist: Wäre es weit verbreitet, immer alle Geschlechter anzusprechen, könnte ich ja als Vorteil dann wiederum explizit solche Dinge sagen wie "bei VW arbeiten nur Ingenieure" und es würde vielleicht nicht so aufgefasst, dass dort jeder einen akademischen Abschluss hat, sondern so, dass dort nur Männer arbeiten. Es soll aber jedes Geschlecht angesprochen werden - und während es mir logisch erscheint, dass eine Person, die sich weder als Frau, noch als Mann identifiziert, sich weder von dem weiblichen noch von dem männlichen Begriff angesprochen fühlen wird, habe ich keine Ahnung, was mein mentales Bild davon dann sein soll.

Und damit zu einem weiteren Problem und einer Frage, die ich mir stelle. Wäre es nicht besser, wir würden diese mentalen Bilder mit gemischten Personengruppen unabhängig von der Sprache entwickeln? Ist das Problem nicht viel weitreichender als nur bis zur Sprache? Woran habt ihr beim Lesen bei den Ärzten gedacht? Männer? Männer und Frauen? Europäische, weiße Männer und Frauen? Es gibt noch ein weiteres Konzept, das ich in dem ganzen Kontext des Genderns noch nie gesehen habe: Erfahrung schafft Vorstellung (Begriff von mir).

Ein großer Teil der Personengruppen, zu denen wir eindeutige Geschlechter im Kopf haben, ist tatsächlich so verteilt, dass dieses Geschlecht dort die Mehrheit bildet. Es gibt auch Gruppen, bei denen man andere Merkmale als das Geschlecht sofort im Kopf hat - beispielsweise Studenten. Oder mehr Merkmale: Wer hat bei Basketballern, Sprintern... zuerst einen Weißen im Kopf? Das größere Problem bei dem ganzen Thema der Repräsentation ist nicht die Sprache, sondern Diskriminierung. Es gibt immer noch große Missstände bei der Repräsentation verschiedener Geschlechter in verschiedenen Berufsgruppen. Um das zur Wunschvorstellung hinzuzufügen: Es sollte allen Frauen und Männern möglich sein, den Beruf zu ergreifen, den sie ergreifen möchten. Ich würde erwarten, dass bei den Berufen, die dann ausgeglichen sind, die Vorstellung auch unabhängig von der Sprache ausgeglichen wird.

Es wird jedoch Berufsgruppen geben, die nie ausgeglichen besetzt werden, weil hierfür nicht das Interesse besteht. Es ist meistens eine schlechte Idee, Gleichverteilung zu erzwingen. Das eigentliche Ziel ist Chancengleichheit. In diesen Fällen ist es hilfreich, sprachlich darstellen zu können, dass Frauen und Männer gleichermaßen gemeint sind, um sich daran zu erinnern, dass es ja auch eine Frau gewesen sein könnte, die Schlagzeug gespielt hat - auch wenn das selten vorkommt. Die Diskussion um und das Arbeiten an der Sprache ist also sicherlich nicht unnütz. Ich habe nur das Gefühl, dass andere Themen eigentlich die höhere Priorität bekommen sollten. Außerdem sehe ich viel Aktionismus und wenig Sachlichkeit. Ein paar Dokumente kann man schnell vom Praktikanten überarbeiten lassen, das gibt eine schöne Pressemitteilung, aber besser wäre doch, man wird sich einig darüber, wie wir geschlechtergemischte Gruppen bezeichnen. Sonst erreichen wir nie Einigkeit in der Bevölkerung und Sprache ist zwar flexibel, aber träge. Ohne breite Einigkeit wird sich aber keine Form des Genderns durchsetzen - und damit verändern wir auch keine Bilder in den Köpfen, sondern verschwenden nur sehr viel Zeit. Der Duden bemerkte schon 1998, dass das generische Maskulinum nicht mehr zeitgemäß ist, und selbst die Anerkennung des dritten Geschlechts per Gesetz ist inzwischen über zwei Jahre her. Und schließlich lassen sich einige Probleme durch Sprache einfach nicht lösen.

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