Fehlplanungen am Chemnitzer Campus


Vorhin schrieb ich an den ADFC Chemnitz. Anlass war die aktuelle Verkehrssituation am Hauptcampus der TU Chemnitz. Dort wird seit Anfang des Jahres kräftig gebaut - der begehbare begrünte Mittelstreifen wird gegen eine Straßenbahn ausgetauscht. Das Projekt war durchgehend sehr umstritten, der Ärger über die geopferten Bäume wich aber irgendwann dem leisen Gedanken "vielleicht ist eine Straßenbahn von der Uni zum Bahnhof ja doch ganz nett".

Reichenhainer Straße in Chemnitz kurz vor Fertigstellung des Umbaus 2017

Abgesehen davon, dass die Straßenbahnlinie nun aber gar nicht den gesamten Campus erfasst, wurde für den Umbau auch die Straße gravierend umstrukturiert: Einseitig wurden die Parkplätze abgeschafft, beidseitig der Radweg. Es gibt also auf der vielleicht am meisten von Radfahrern genutzten Straße in Chemnitz keinen Radweg mehr. Das war mir schon am Anfang aufgefallen, ich hatte bereits dann dem ADFC geschrieben und man antwortete mir:

Die Reichenhainer Str. wird ja quasi zur verkehrsberuhigten Zone, der Durchgangsverkehr wird ab dem neuen Kreisverkehr am Südbahnhof über die Fraunhofer-Str. in Richtung Südring gehen. Damit ergibt sich die Möglichkeit, den Radverkehr wieder direkt auf die Reichenhainer Straße zu bringen. Wenn es die Situation zulässt, ist das ein Ziel, welches der ADFC schon immer verfolgt. Die derzeitige Situation, daß Autofahrer denken, ihnen gehört die Straße allein kommt u.a. auch ein wenig daher, daß zu lange daran gearbeitet wurde, den Radverkehr außer Sichtweite des Autofahrers oder zumindest an den Rand einer für Kfz frei befahrbaren Straße zu drängen. Ziel sollte aber sein, auch den Chemnitzer Autofahrern und denen aus der Umgebung wieder das eigentlich Normale, das jederzeit in Gemeinden und Städten nahezu überall Radfahrer auf der Straße anzutreffen sind, in die Köpfe zu bringen.

Die für die Planung von Straßen und Wegen zugrunde liegenden Empfehlungen ERA legen den Planern nahe, bei gemischten Verkehrsgruppen auf einer Fahrbahn entweder die Straße eng zu halten, also nur um die 3,25m, damit der Radfahrer VOR dem Auto bleiben kann und nicht eng überholt wird ODER sehr weit zu halten (die angesprochenen >4m sind sehr gut) damit der Kfz-Verkehr in ausreichend großem Abstand entspannt überholen kann.

Wir sehen also den Umbauten auf der Reichenhainer und Reitbahnstr. erstmal entspannt entgegen.

Die Vorstellung, Autofahrer und Radfahrer könnten friedlich miteinander auf der Straße fahren, fand ich damals schon naiv und utopisch. Ich weiß auch nicht, wie ein Unterschied von 75cm in der Fahrbahnbreite dafür sorgt, dass Radfahrer nicht nur überholt, sondern sicher überholt werden können. Was daraus geworden ist, könnt ihr jedenfalls im Folgenden in meiner Antwort lesen.

[...] auch wenn auf die letzte Nachricht dann keine Antwort mehr kam, hier ein aktueller Zwischenbericht. An der Reichenhainer Straße ist inzwischen eine Fahrspur mehr oder weniger fertig - die Bordsteine sind da, die Parkplätze sind wieder errichtet worden, streckenweise ist also auf der Fahrbahn stadtauswärts alles so, wie es mal sein wird. Das heißt auch, es zeigt sich jetzt, ob es funktioniert, dass Radfahrer und Autofahrer vernünftig nebeneinander herfahren können.

Kurze Antwort: Nein. Entweder fahren die Radfahrer so, dass sie einen vernünftigen Sicherheitsabstand zum Rand haben - dann können die Autofahrer nicht überholen. Oder die Radfahrer fahren sehr randnah, dann überholen die Autofahrer, teils genervt und daher schnell und mit starker Beschleunigung (wie immer und überall) - ausreichend Sicherheitsabstand ist da nicht dabei.

Zurzeit dürfen Radfahrer die Spur auch entgegen der Fahrtrichtung benutzen, was einige weitere Beobachtungen ermöglicht. Erstens, auf Radfahrer, die entgegen der Fahrtrichtung fahren, wird teilweise (nicht immer) mehr Rücksicht genommen. Zweitens, ein wirklich sicheres Aneinandervorbeifahren ist nichtmal dann möglich, wenn die Autofahrer sehr nah am Rand fahren. Funktioniert also auch nicht.

Ganz davon ab: Nah am Rand fahren sollte weder für Autos noch für Fahrräder notwendig sein, denn da parken ja Autos und da wird auch gelegentlich mal eine Tür einfach aufgerissen.

Damit ist eigentlich alles gesagt. JETZT ist es natürlich zu spät, denn die Stadt hat offensichtlich großen Druck ausgeübt, um das ganze Projekt voran zu bringen, die Bauarbeiten werden also bald abgeschlossen sein und dann wird sich da nichts mehr tun. Die Reichenhainer Straße wird sicherlich nicht lebensgefährlich nach dem Umbau und man muss sagen, dass es immerhin ein Vorteil ist, dass auf der stadteinwärts führenden Seite die Parkplätze wegreduziert wurden - denn dort geht es heftig bergab und man lief als Radfahrer bisher Gefahr, bei hoher Geschwindigkeit eine Autotür abzubekommen. Dennoch denke ich, dass klar markierte Radwege auf der Straße wesentlich sicherer sind als keine Radwege.

Aus meiner Sicht war also der Verzicht auf einen Radweg auf der neuen Reichenhainer Straße eine totale Fehlentscheidung und es ist mir unbegreiflich, wie der ADFC, die einzige Lobby für Radfahrer und damit die vermutlich einzige Organisation, der man vielleicht zugehört hätte, das auch noch befürworten konnte. Chemnitz' wichtigste Uni-Straße hat damit deutlich an Attraktivität verloren.